2004

1. 7. 2004
Wiesbadener Kurier

Statt Therapie gab´s Prügelstrafe

Mutter und Sohn Schreyer erinnern sich an ihre Jahre in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof

Vom 01.07.2004
WIESBADEN Frühere Heimkinder haben eine Interessengemeinschaft gegründet: Sie wollen entschädigt werden für erlittenes Unrecht, Prügel und Zwangsarbeit. Zu ihnen zählen Elfriede Schreyer und ihr Sohn Heinz-Dieter, die lange Jahre im Idsteiner Kalmenhof gelebt haben.  
Von Kurier-Redakteur
Christoph Cuntz
Wenn sich Heinz-Dieter Schreyer an seine Jugend erinnert, sieht er vor seinem geistigen Auge den Kalmenhof in Idstein, der sich damals Heilerziehungsheim nannte. In seinem Tagtraum tritt er vor seine Mutter, die wie er dort untergebracht war. Und die ihn fragt: "Heinz-Dieter, was machst Du hier?" Und er antwortet: "Ich bin auf der Suche nach dem Verlorenen, nach meiner Kindheit, meiner Jugend, meinem Selbst." Seine Mutter Elfriede antwortet: "Mein Sohn, das alles habe ich auch verloren und noch viel mehr."
Die heute 73-Jährige, die in einer Altenwohnanlage in Klarenthal lebt, war 1943 zur Waisen geworden, nachdem ihre Eltern bei einem Luftangriff in Kassel ums Leben gekommen waren. Das Kind war zunächst in die "Landesheilanstalt Eichberg", dann auf den Kalmenhof gebracht worden, Ärzte hatten ihm "Schwachsinn mittleren Grades" bescheinigt. Damit hätte sie wohl dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer fallen sollen. Dessen Ziel war es, "lebensunwertes Leben" auszurotten. Sie entging dem "Gnadentod". Vermutlich mehr aus Zufall.
Auch nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur musste sie im Kalmenhof bleiben. "Sie wird stets Überwachung und Führung nötig haben", heißt es 1946 in einem Bericht über sie. Später, nachdem sie Mutter geworden war, wurde ihr "sexuelle Triebhaftigkeit" unterstellt.
Solche Sätze sind festgehalten in ihrer Akte, die sich ihr Sohn besorgt hat. Die kopierten Unterlagen hat er in einen gelben Umschlag geheftet. "Anna Elfriede Schreyer, geboren am 9. März 1931, in Freiheit lebend seit 1970" steht darauf. Und: "Ein Leben immer am Rande der Gesellschaft".
An Schläge mit dem Rohrstock erinnert sich Elfriede Schreyer. Daran, dass sie "mit Kerlen" abhaute und dabei "erwischt " wurde. Sie arbeitete in einer Bäckerei in Idstein, ohne jemals Lohn erhalten zu haben. Sie kochte in der Kalmenhof-Küche und servierte das Essen. "Elfriede wurde als Faktotum gehalten", sagt Gertrud Zovkic, die 1966 als Psychologin im Kalmenhof angefangen hatte. Dort hatte sie unfähige Erzieher und "mittelalterliche Zustände" kennengelernt. Öffentlich prangerte sie die "autoritären und demagogischen
"Die Menschen waren ausgeliefert"
Praktiken" des damaligen Kalmenhof-Direktors an. Denn die Prügelstrafe hatte im Kalmenhof bis Ende der 60er Jahre System. Einer der Erzieher etwa hatte mehrere seiner Zöglinge als "Prügelgarde" eingesetzt, die andere Schüler, mit denen er nicht fertig geworden war, zusammenschlug. Das Wiesbadener Schöffengericht verurteilte den Mann deshalb zu 100 Mark Geldstrafe. Ihm wurde gekündigt. Aber auch der Psychologin Zovkic, die als linksradikal abgestempelt wurde, weil sie zusammen mit der Schwester der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof studiert hatte.
"Die Menschen waren ausgeliefert, therapeutisch wurde nichts mit ihnen gemacht", sagt die heute 72 Jahre alte Psychologin, die nach ihrer Kündigung erst wieder in Düsseldorf eine Stelle gefunden hatte. Elfriede Schreyer etwa sei durch ihre Kindheitsängste traumatisiert gewesen. Sie habe "schwerste Defizite in der Sozialisation" gehabt, ohne eine Chance, diese aufzuarbeiten. Die angebliche "sexuelle Triebhaftigkeit" sei dem "miefigen, kleinbürgerlichen Denken" der Anstalt entsprungen, die geglaubt habe, so etwas ließe sich mit Strafe verhindern: Dem "Faktotum" wurden die Haare geschoren, wenn es mal wieder zusammen mit einem "Kerl" erwischt worden war.
Dass Elfriede Schreyer 1970 dem Kalmenhof entkam, dass sie in Auringen für eine Zwischenzeit eine Stelle und später einen Mann fand, all das hat sie dem Einsatz der Psychologin Zovkic zu verdanken. Die erinnert sich auch noch an ihren Sohn, den sie als hospitalisiertes Kind beschreibt: Heinz-Dieter Schreyer hatte seine Mutter zum ersten Mal 1967 gesehen, als er nach einer Odyssee durch hessische Kinderheime endlich in den Kalmenhof kam. Er weiß noch den Code "K 78 E", der in seine Anstalts-Kleider eingenäht war, kann sich an die Strafe erinnern, die er erhielt, weil er nachts mit anderen in den Betten getobt hatte: Der Junge musste zusammen mit den anderen Jungen barfuß im Schnee stehen, "bis wir umfielen". In Armeeklamotten und in zu kleinen Stiefeln habe er mit den anderen raus aufs Feld gemusst, Mohrrüben sammeln. "Wir galten als Idioten", sagt er. Und als er kürzlich zum ersten Mal in seine Akte blickte, bekam er es amtlich, dass man ihm den Abschluss einer Lehre nicht zutraute. Eine Fehleinschätzung: Heinz-Dieter Schreyer legte 1975 seine Prüfung als Malergeselle ab. Heute verdient er seinen Lebensunterhalt als Angestellter und ernährt seine Familie.
Nun, mit 48 Jahren, macht er sich daran, seine Lebensgeschichte Stück für Stück aufzuarbeiten. Entgegen früheren Vorsätze ist er doch noch einmal zum Kalmenhof gefahren. "Mein Herz klopfte und in mir stürzte die Schutzmauer ein", beschreibt er seine Gefühle.
Er hat im Kurier gelesen, dass sich eine Bundes-Interessengemeinschaft gegründet hat, die sich für misshandelte und missbrauchte Kinder einsetzt. Er hat die Initiatoren angeschrieben. Und er hofft auf Unterstützung für sein Anliegen. Denn Heinz-Dieter Schreyer möchte eine Entschuldigung für das, was ihm widerfahren ist. Und er möchte, dass seine Mutter für die Zeit im Kalmenhof Rentenansprüche geltend machen kann. "Was ist ihr geblieben außer der Erkenntnis, im Kalmenhof schwer gearbeitet zu haben?."
Das Kulturzentrum Eichberg lädt heute um 14 Uhr im KuZ-Seminarraum zu einem Vortrag von Peter Sandner ein. Der Historiker vom Hauptstaatsarchiv Hessen referiert über das Thema "Gut organisiert - Die Verantwortung der Verwaltung an der systematischen Tötung von psychisch Kranken am Beispiel Eichberg".




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